Von manchen Angewohnheiten meines Vaters bin ich heute richtig angewidert. Sobald ich sie auch nur ansatzweise bei mir selbst entdecke, zucke ich zusammen. Alles was mich an ihm störte fiel mir erst ab dem Alter von 14 Jahren auf. Zum Beispiel sein offen zur Schau getragener Chauvinismus. Für ihn waren Frauen schlicht dümmer als Männer und Juden beherrschten die Welt. Allerdings hat er Frauen immer gern gefickt, bis ins hohe Alter.
Einmal waren wir für eine Woche in St. Tropez. Ich war 16. Mein Bester Schulfreund machte in der Nähe Urlaub. So fügte es sich, dass wir ihn und seine Mutter einluden, uns zu einer Abendeinladung zu begleiten. Geplant war ein Essen in der Wohnung eines ARD-Hörfunkkorrespondenten, der einen Teil seiner Zeit in Moskau und die nicht zu knapp bemessene übrige Zeit in seiner Wohnung in Ramatuelle verbrachte. Dieses wunder schöne schneckenartig um eine Bergkuppe gruppierte Dorf hatte sich trotz des St.-Tropez-Wahns gut gehalten und war Heimat für viele Künstler und andere Lebemenschen geworden und dabei ruhig und beschaulich geblieben. Unser Gastgeber verfügte über eine der schönsten Wohnungen dort: Im Dorfzentrum, unweit der Bar de l’Ormeau, ließ sich vom Balkon aus der gesamte Ort überblicken.
Die Mutter meines Freundes, eine geschiedene Generalsgattin, wurde neben meinen Vater platziert, Jörg und ich an einen Katzentisch. Wir verfolgten trotz der Distanz die politischen Diskussionen der Erwachsenen. Jörgs Mutter machte dabei eine gute Figur. Sie war eine edle Erscheinung, mit Stil, Bildung und Eloquenz. Für meinen Geschmack nur zu viel geschminkt, worin ich mir mit Jörg einig war. Eloquenz und Bildung besaß mein Vater auch, an Stil fehlte es ihm jedoch völlig. Er versuchte das durch den Kauf von Designer-Slippern und Armani-Pullovern auszugleichen. Mir tat er dabei immer etwas leid, denn jeder mit Geschmacks- und Markenbildung erkannte an dem unmöglichen Mix, an den unpassenden Socken oder anderen Details, dass er von Mode nichts verstand. Es trieb mir fast die Tränen in die Augen, wenn ich seine Badezimmerausstattung sah: Quelle-Versandhandtücher mit rosa Rosen, billiges Rasierwasser, BAC-Deo und plüschige pastellfarbene Klovorleger.
Die Zornesröte trieb es mir aber ins Gesicht, als mein Vater im Verlauf der Diskussion in Ramatuelle eine treffende Bemerkung von Jörgs Mutter mit dem begeisterten Ausruf „Kluges Frauchen!“ lobte und ihr dazu einem Schüler gleich, über den Kopf wuschelte. Sie bewies Contenance und ließ sich nichts anmerken. Ich versank vor Scham fast in den Boden.
Die Mächte der Finsternis hatten aber für diesen Spätsommerabend noch mehr vorgesehen: Ein wenig später wurde ich von meinem Vater zum Auto geschickt, um dort Zigaretten für ihn zu holen. Vom Einkauf lag noch eine Stange Gauloises auf der Rücksitzbank seines neu erworbenen gebrauchten BMW 320. Sechs Zylinder, das erste Mal, dass er keinen Renault fuhr. Sein Stolz. Auch wenn er, der Mittelschullehrer, von Gewissensbissen geplagt wurde. Denn sein Direktor fuhr Opel und BMW war höher – das ging eigentlich nicht. Ich bekam den deutlichen Hinweis mit auf den Weg, ja dafür zu sorgen, dass das Auto auch gut abgeschlossen ist.
Hier zeigte sich der Kontrollwahn meines Vaters. Der hatte schon in der Ehe mit meiner Mutter jeden Streit protokolliert, um Wochen später seine Notizen bei anderer Gelegenheit mit einem triumphierenden „Am 24. März hast Du aber gesagt…“ aus dem Archiv zu fischen. Im Alltäglichen schlug sich der Wahn etwas harmloser aber dennoch nervend wieder. So verzögerte sich die Abfahrt in den Urlaub, weil meinem Vater kurz nach Abfahrt einfiel, dass er hundertprozentig noch eine Herdplatte an hatte. Mein Einwurf, dass sowohl er, als auch ich das doch kontrolliert hätten, zählte nicht.
Auch die Gewissheit, die er sich durch Rückkehr und eine erneute Kontrolle verschaffte, hielt nicht lange vor. Zwei Stunden später, kurz vor der Grenze zu Frankreich, stoppte er an der letzten deutschen Telefonzelle, um seinen Nachbarn zu beauftragen, mit dem Ersatzschlüssel noch einmal nach dem Herd zu sehen. Er sei sich ganz sicher, dass da eine Herdplatte nicht ausgemacht wurde.
All dies im Kopf holte ich also meinem Vater Zigaretten. Natürlich verschloss ich den BMW sorgfältig und kontrollierte nochmals Türen und Kofferraum. Und nochmals. Das war ansteckend. Jedes Schloss war abgeschlossen. So wahr mir Gott helfe!
Das alles zählte nicht mehr, als wir Stunden später zum Parkplatz kamen und der Wagen weg war. Da war alles aus. Mein Vater war von der Überzeugung nicht abzubringen, ich hätte den Wagen nicht verschlossen und es den Dieben leicht gemacht.
Er nutzte seinen ADAC-Schutzbrief, um nach Hause zu fliegen – ein elitäres Vergnügen zu dieser Zeit. Ich fuhr mit meinem Freund und der Generalsgattin per Golf GTI nach Hause. Es war der letzte Urlaub mit meinem Vater. In den folgenden knapp 20 Jahren bis zu seinem Tod besuchte ich ihn nur noch am Heiligen Abend für vielleicht zwei Stunden. Ich hatte Tage Horror davor und Stunden schlechte Laune danach. Mein Motiv war Mitleid und schlechts Gewissen, wenn ich ihn ganz hätte fallen lassen. Der BMW tauchte vier Wochen nach dem Vorfall wieder auf. Einige Kilometer entfernt vor einer Diskothek. Ein paar Jungs hatten ihn aufgebrochen, weil das bequemer war als zu trampen. Der BMW fiel an die Versicherung. Mein Vater hatte sich von der Vollkaskoauszahlung einen Renault Fuego gekauft.
Leave a Response »